Nachwort zu “Das Haus in der Half Moon Street”

Alex Reeve:

Als mir zum ersten Mal der Gedanke kam, über einen trans Protagonisten zu schreiben, saß ich im Zug und starrte den leeren Sitz neben meiner Kollegin an, die zufällig trans war. Der Zug war voll, die Leute standen im Gang, aber aus irgendeinem Grund hatte niemand sich auf diesen Platz gesetzt – jedenfalls bis ein Teenagermädchen mit dem Smartphone am Ohr sich durch die Menge drängte und sich auf den Sitz fallen ließ.

Meine Kollegin sagte nichts dazu, aber sie muss die Blicke und das Geflüster bemerkt haben. In diesem Moment empfand ich eine Woge von Mitgefühl und stummer Wut. Ist das nicht das grundlegendste Recht, das wir als Menschen haben: unsere Identität frei zu wählen? Wessen Angelegenheit ist es denn, ob ich männlichen oder weiblichen Geschlechts bin oder beides oder keins davon – außer meiner eigenen?

Ich hatte schon seit einer Weile darüber nachgedacht, einen historischen Kriminalroman zu schreiben, und fragte mich nun, ob in ihm eine trans Figur auftreten könnte. Ich stürzte mich in die Recherchen und stellte sehr schnell fest, dass sich nicht so viel geändert hat, wie man vielleicht meinen könnte. Ich fand juristische Unklarheiten, Fehlinformationen, Missverständnisse, gesellschaftliche Ablehnung und manchmal auch gesundheitliche Probleme sowohl körperlicher als auch seelischer Art.

Ich stieß auf einige tragische Geschichten wie etwa die von Edward de Lacy Evans, einem trans Mann, der im Jahr 1879 von Ärzten eines Krankenhauses sexuell missbraucht wurde und den man später in einer Bühnenschau als »The Man-Woman Mystery« präsentierte. Er verbrachte seine späteren Jahre in einem Armenhaus. Oder Harry Stokes, der sich im Alter von sechzig Jahren das Leben nahm. Stokes war Schornsteinbauer und konnte den Whitehaven News von 1859 zufolge »Lasten heben, Mörtel aufbringen und Backsteine versetzen« wie die Besten seines Fachs. Es gab auch zahlreiche Triumphe, etwa den von James Barry, der 1857 den zweithöchsten möglichen Rang eines Arztes in der britischen Armee erreichte, und den von James How, der vierunddreißig Jahre lang als Mann lebte und um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts mit seiner Ehefrau zusammen einen Pub in Poplar betrieb. Und natürlich muss es außerdem noch Tausende von trans Menschen gegeben haben, deren Leben ich einfach deshalb nicht recherchieren konnte, weil sie es in Frieden und zufriedener Anonymität gelebt hatten.

Irgendwann in diesem Forschungsprozess erschien eine Figur fast gänzlich ausgeformt in meinem Geist. Geboren in einer Kleinstadt als Kind eines Pfarrersehepaars und inzwischen Mitte zwanzig, hatte er sein Elternhaus mit fünfzehn Jahren verlassen und war zu Leo Stanhope geworden. Er war ein Stück weit ein Romantiker, in mancher Hinsicht recht unschuldig, sich seiner selbst sicher, gelegentlich aber auch amüsiert über seine Situation. Ich begann die Welt mit seinen Augen zu sehen und seine Stimme zu hören, die mir mit gelegentlichen Anfällen von Ungeduld erklärte, wie diese Welt sich ihm darstellte. Nachdem er einmal aufgetaucht war, wollte er nicht mehr verschwinden. Ich begann ein Spiel mit mir selbst zu spielen: Was würde Leo denken? Anfangs stellte ich ihm die großen Fragen aus Politik und Kultur, aber sehr schnell war ich bei den kleinsten Details angelangt. Würde Leo Erbsen mit der Gabel aufschaufeln oder einzeln aufspießen? (Er ist ohne jeden Zweifel ein Schaufler.) Würde er dum-dum oder la-la singen, wenn er die Worte zu einer Melodie nicht kennt? (La-la, aber nur in Gedanken.) Ich lernte ihn besser kennen, als ich eine ganze Menge reale Menschen kenne.

Ich liebte Leo, aber zugleich sah ich eine Million Probleme auf mich zukommen, allen voran das der kulturellen Aneignung. Ich bin kein trans Mann – hatte ich überhaupt das Recht, diese Geschichte zu erzählen?

Ich unternahm wirklich alles, um dem Problem aus dem Weg zu gehen. Ich übte mich in schriftstellerischen Verrenkungen, die mir kein Mensch glauben würde.

Zunächst machte ich Leo zu einem Sidekick, dem Freund des Detektivs, der im Mittelpunkt der Handlung stehen sollte. Aber die Geschichte entwickelte einen Drall zurück zu Leo. Jedes Mal, wenn ich hinsah, hatte er es wieder fertig gebracht, sich ins Rampenlicht zu stellen. Als Nächstes degradierte ich ihn, machte ihn zu einer Nebenfigur, die im Roman kaum eine Rolle spielte. Aber das kam mir vor, als hätte ich eine Quotenfigur geschaffen, und außerdem war dies ganz einfach nicht die Geschichte, die ich erzählen wollte.

Danach nahm ich mir ein paar Wochen Zeit zum Nachdenken. Was war es eigentlich, das mich an dieser Geschichte so faszinierte?

Die Antwort war im Grunde schon die ganze Zeit offensichtlich gewesen. Was mich interessierte, war die Frage der Identität, das Recht jedes Menschen, zu entscheiden, wer er ist. Und wenn dies das Thema der Geschichte sein sollte, dann musste Leo ihr Herzstück sein. Das war der Grund, warum er sich derart in meinen Gedanken eingenistet hatte.

Ich hatte nach wie vor Bedenken angesichts der Möglichkeit kultureller Vereinnahmung, und tatsächlich habe ich sie auch nie ganz ausräumen können. Also stellte ich eine Regel auf: In diesem Roman würde es nicht um eine Transition gehen und nicht einmal darum, trans zu sein. Es würde vielmehr ein Roman über einen Mann sein, der zufällig eben trans ist. Und damit war für mich die nötige Klarheit geschaffen. Leo verliert die große Liebe seines Lebens, ein tragischer Verlust, der jeden Menschen treffen könnte, aber ihr Tod geht weder darauf zurück, dass Leo trans ist, noch wird er durch diese Tatsache aufgeklärt. Leo hat seine ganz eigene Sicht der Dinge, aber trans zu sein ist nicht das, was ihn ausmacht, und ganz sicher nicht die Summe seiner Teile. Es ist einfach ein Aspekt des Menschen, der er ist.

Nachdem ich diese Entscheidung einmal getroffen hatte, hat es mir meistens großen Spaß gemacht, aus seiner Perspektive zu schreiben. Natürlich wird er von den anderen Figuren in aller Regel als Mann behandelt, und diese Passagen konnte ich aus eigener Erfahrung schildern. Die Abschnitte, wo das nicht der Fall ist, waren dagegen sehr schwierig. Eine Szene vor allem – und wer das Buch gelesen hat, kann sich vermutlich denken welche – ist mir entsetzlich nachgegangen. Ich schrieb sie an einem Stück, als ich allein zu Hause war, und danach warf ich mindestens drei Monate lang keinen Blick mehr darauf. Ich fragte mich, ob sie im fertigen Buch überhaupt erscheinen sollte, entschied letzten Endes aber, dass sie geradezu ein Herzstück dessen ist, worum es in der Geschichte geht. Trotz des Grauens behalten Leo und Rosie die Kontrolle über ihr Schicksal, und beide handeln heroisch.

Nachdem ich einen Entwurf des Romans fertiggestellt hatte, wollte ich die Meinung von Menschen hören, die aus eigener Erfahrung sprechen können, und so wandte ich mich an die Beaumont Society, eine fabelhafte gemeinnützige Organisation von und für trans Menschen. Die Leute dort waren unglaublich geduldig und hilfsbereit und gaben mir den Glauben daran, dass mein Buch einen nützlichen Beitrag zu der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Thema leisten konnte.

An der Oberfläche ist Das Haus in der Half Moon Street ganz einfach ein historischer Kriminalroman, und ich habe eine ausgeprägte Schwäche für historische Kriminalromane. Aber auf einer tieferen Ebene geht es in dem Buch zugleich auch um Identität: um die Menschen, die wir behaupten zu sein, diejenigen, von denen andere denken, dass wir sie sind, und die, die wir sein wollen. Fast jede Figur des Buches hat einen Wandel durchgemacht. Sie haben sich den mächtigen Kräften von Geschlechterpolitik, gesellschaftlicher Klasse, Geld oder Ehrgeiz angepasst. Viele von ihnen haben ihre Namen, ihren Kleidungsstil, ihre Art zu sprechen verändert. Hierin liegt die dramatische Ironie, die mich dazu trieb, das Buch zu Ende zu bringen: Von ihnen allen ist Leo derjenige, der sich am wenigsten verändert hat.

Leo hat einfach nur aufgehört, so zu tun, als sei er jemand anderes.

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